Es gibt ein paar simple Grundregeln, wenn Web-Unternehmen
ihre Sites neu gestalten:
- Nach dem Relaunch ist vor dem Relaunch
- Egal was du tust, Nutzer werden sich beschweren.
Der letzte Punkt ist inzwischen so verbreitet, dass Sites
wie das Techblog Techcrunch sogar zum Relaunch gleich eine Vorlage für wütende
Beschwerdemails mitgeliefert haben.
Ob Facebook-Chronik, potenzielle neue Facebook-Chronik,
Twitter, Google + oder Google + App: der Protest-Chor stimmt jedes Mal ein
vielstimmiges „Früher war alles besser, so wie die alte Version“ an.
Quelle: TPM / Carl Franzen |
Daran lassen sich ein paar interessante
Wahrnehmungsphänomene beobachten. Es gibt Gründe dafür, warum Internet-User landauf, landab zu
grantelnden Parkbank-Rentnern mutieren, wenn jemand ihre Web-Dienste umstellt.
Denn es geht ja nicht nur darum, dass früher alles besser
war, die Nutzer fühlen sich in Teilen regelrecht angegriffen: „Wie kommen die
dazu, an meinem Profil rumzufummeln, ich mag es so wie es ist, Finger weg, das
gehört mir!“
Tut es nicht.
Es ist nicht dein Profiltyp, es ist Facebooks. Oder
Twitters. Oder Googles. Nicht von den Inhalten her, aber vom Layout, den
Funktionen, der Logik dahinter.
Aber je mehr Zeit die Nutzer damit verbringen, je mehr sie damit
umgehen, es für Interaktionen nutzen, umso stärker wird die empfundene Bindung
auch an das Trägermedium oder die Träger-Infrastruktur. Was Reaktanz nach sich
zieht, wenn jemand daran rumschraubt.
Schon aus einem ganz lapidaren Grund, den größere Veränderungen
durch Relaunch oder Redesign nach sich ziehen: Der Verlust von Vertrautheit,
eine gewisse Desorientierung, die Notwendigkeit, sich mit Neuerungen
auseinanderzusetzen. Das ist erstmal unangenehm, insbesondere, wenn Nutzer
tatsächlich nach vertrauten Funktionen suchen müssen oder Dinge komplizierter
wirken.
Wenn ihnen dann der Mehrwert nicht gleich ersichtlich ist,
fremdeln einige Nutzer zunächst. Wobei wir natürlich nicht von allen Nutzern reden oder davon, dass diese Effekte voll durchschlagen würden - sie können auch nur schwach ausgeprägt auftreten. Mir geht es gerade um die grundlegende Wirkung, da klingt das absoluter, als es meist ist.
Ich sehe was, was ich früher nicht sah
Manches Unangenehme oder Irritierende wird Nutzern
überhaupt erst durch die Veränderung bewusst. Die Beschwerden rund um Facebooks Chronik haben
das gut gezeigt: Protestgruppen, Weltuntergangsstimmung und überhaupt: Wie
kommt Zuckerberg dazu, mein Profil umzustellen und alle möglichen Infos
sichtbar zu machen?
Das lustige daran: Es wurde eigentlich nicht mehr sichtbar
als vorher, die neue Struktur machte nur deutlich, dass diese Infos auffind-
und einsehbar sind. Ein reines Wahrnehmungsphänomen. Die Chronik und der
Prüfprozess führte den Nutzern nur vor Augen, dass sie diese Infos anderen
zugänglich gemacht haben. Ein insbesondere im Bereich Umgang mit eigenen Daten
immer wieder spannender Punkt: Inwieweit bemerken und verstehen Nutzer, was sie
wem zugänglich machen? Je mehr Abstraktionsgrade hinzukommen, je indirekter
also der Eingabe das sichtbare Ergebnis gegenübersteht, desto weniger kommt es
kognitiv an.
Weil auch das recht abstrakt klingt: Das ist der Grund,
warum Nutzer sich etwa mit ihrem Facebook-Login bei neuen Diensten anmelden und
später wundern, warum der neue Dienst ihnen denn lauter Leute als Freunde vorschlägt,
die sie tatsächlich kennen. Oder Dinge posten und sich wundern, wenn später
jemand davon weiß.
Der diffizile Spagat
„Die Nutzer sind nur zu blöd“ stellt im übrigen eine der
fatalsten Einstellungen dar, mit der ein Unternehmen auf Protest an
Umstellungen reagieren kann. Wenn etwa Nutzer eine Funktion nicht mehr finden,
obwohl sie nach wie vor verfügbar ist, kann das Unternehmen nicht einfach mit
den Schultern zucken. Es ist nicht nur das Problem der Nutzer, sondern auch
seins. Wenn signifikante Teile auch über eine Umstellungsphase hinweg in einem
Layout bestimmte Funktionen nicht finden, ist „die sind halt zu doof“ die
falsche Antwort. Dann erfüllt das Layout seine Funktion nicht, Punkt. Oder es
fehlt ein vernünftiges Tutorial, um die Logik dahinter den Anwendern zu
vermitteln.
Das ist der diffizile Spagat: Kritik abfedern und
herausfiltern, was dem üblichen kurzweiligen Entrüstungssturm geschuldet ist
und was ernsthaftes Feedback darstellt. Am Beispiel Facebook: Von den
Protestgruppen zur Timeline ist nichts mehr zu hören, da beschwert sich nicht
mal mehr ein gallisches Dorf. Und das liegt nicht daran, dass es einen
Massenexodus gegeben hätte – sie haben sich nur beruhigt und damit abgefunden. Andere Dienste – wie den frühen Facebook-Ballon Beacon, der
die Freunde über das eigene Shopping-Verhalten informiert hätte – hat der
Proteststurm hinweg gefegt.
Für Unternehmen heißt das, sie müssen einerseits ein vernünftiges
Change Management betreiben und den Nutzern die Veränderungen erklären und nahe
bringen – das hat Facebook bei noch nichts so explizit betrieben wie bei der
Chronik – und andererseits aus der Kritik die relevanten Punkte herausfiltern. Eine
Abstimmung mit den Füßen respektive der Maus, sprich: Nutzerschwund, will ja
keiner. Und normalerweise steckt ja ein Konzept, eine Logik hinter den
Veränderungen, kein bloßer Impuls. Bei Google etwa hat schon mal ein
Chefdesigner gekündigt, weil er keine Lust mehr hatte, sich vor einem
Ingenieurstribunal für jede Verschiebung von Schaltflächen um ein paar Pixel
rechtfertigen zu müssen. Aber nicht jedes Konzept geht auf.
Mehr mit den Nutzern reden, sie besser in die Neuerungen einführen und ihnen diese nahebringen, kann viel Reaktanz nehmen. Das hat nur noch nicht jeder begriffen. Und manchmal haben die Nutzer mit ihrer Kritik halt auch recht.
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