Mittwoch, 30. Mai 2012

Dein Profil gehört nicht dir - Von Redesigns, Wahrnehmung und Change Management


Es gibt ein paar simple Grundregeln, wenn Web-Unternehmen ihre Sites neu gestalten:

  1. Nach dem Relaunch ist vor dem Relaunch
  2. Egal was du tust, Nutzer werden sich beschweren.
Der letzte Punkt ist inzwischen so verbreitet, dass Sites wie das Techblog Techcrunch sogar zum Relaunch gleich eine Vorlage für wütende Beschwerdemails mitgeliefert haben. 

Ob Facebook-Chronik, potenzielle neue Facebook-Chronik, Twitter, Google + oder Google + App: der Protest-Chor stimmt jedes Mal ein vielstimmiges „Früher war alles besser, so wie die alte Version“ an. 

Quelle: TPM / Carl Franzen


Daran lassen sich ein paar interessante Wahrnehmungsphänomene beobachten. Es gibt Gründe dafür, warum Internet-User landauf, landab zu grantelnden Parkbank-Rentnern mutieren, wenn jemand ihre Web-Dienste umstellt.

Denn es geht ja nicht nur darum, dass früher alles besser war, die Nutzer fühlen sich in Teilen regelrecht angegriffen: „Wie kommen die dazu, an meinem Profil rumzufummeln, ich mag es so wie es ist, Finger weg, das gehört mir!“

Tut es nicht.

Es ist nicht dein Profiltyp, es ist Facebooks. Oder Twitters. Oder Googles. Nicht von den Inhalten her, aber vom Layout, den Funktionen, der Logik dahinter.

Aber je mehr Zeit die Nutzer damit verbringen, je mehr sie damit umgehen, es für Interaktionen nutzen, umso stärker wird die empfundene Bindung auch an das Trägermedium oder die Träger-Infrastruktur. Was Reaktanz nach sich zieht, wenn jemand daran rumschraubt.

Schon aus einem ganz lapidaren Grund, den größere Veränderungen durch Relaunch oder Redesign nach sich ziehen: Der Verlust von Vertrautheit, eine gewisse Desorientierung, die Notwendigkeit, sich mit Neuerungen auseinanderzusetzen. Das ist erstmal unangenehm, insbesondere, wenn Nutzer tatsächlich nach vertrauten Funktionen suchen müssen oder Dinge komplizierter wirken.

Wenn ihnen dann der Mehrwert nicht gleich ersichtlich ist, fremdeln einige Nutzer zunächst. Wobei wir natürlich nicht von allen Nutzern reden oder davon, dass diese Effekte voll durchschlagen würden - sie können auch  nur schwach ausgeprägt auftreten. Mir geht es gerade um die grundlegende Wirkung, da klingt das absoluter, als es meist ist.

Ich sehe was, was ich früher nicht sah

Manches Unangenehme oder Irritierende wird Nutzern überhaupt erst durch die Veränderung bewusst. Die Beschwerden rund um Facebooks Chronik haben das gut gezeigt: Protestgruppen, Weltuntergangsstimmung und überhaupt: Wie kommt Zuckerberg dazu, mein Profil umzustellen und alle möglichen Infos sichtbar zu machen?

Das lustige daran: Es wurde eigentlich nicht mehr sichtbar als vorher, die neue Struktur machte nur deutlich, dass diese Infos auffind- und einsehbar sind. Ein reines Wahrnehmungsphänomen. Die Chronik und der Prüfprozess führte den Nutzern nur vor Augen, dass sie diese Infos anderen zugänglich gemacht haben. Ein insbesondere im Bereich Umgang mit eigenen Daten immer wieder spannender Punkt: Inwieweit bemerken und verstehen Nutzer, was sie wem zugänglich machen? Je mehr Abstraktionsgrade hinzukommen, je indirekter also der Eingabe das sichtbare Ergebnis gegenübersteht, desto weniger kommt es kognitiv an.

Weil auch das recht abstrakt klingt: Das ist der Grund, warum Nutzer sich etwa mit ihrem Facebook-Login bei neuen Diensten anmelden und später wundern, warum der neue Dienst ihnen denn lauter Leute als Freunde vorschlägt, die sie tatsächlich kennen. Oder Dinge posten und sich wundern, wenn später jemand davon weiß.

Das soll nicht heißen, dass alle Nutzer zu blöd seien und kein Mensch wüsste, was er da tut – aber es ist ein immer wieder in verschieden starken Ausprägungen beobachtbares Phänomen.

Der diffizile Spagat 

„Die Nutzer sind nur zu blöd“ stellt im übrigen eine der fatalsten Einstellungen dar, mit der ein Unternehmen auf Protest an Umstellungen reagieren kann. Wenn etwa Nutzer eine Funktion nicht mehr finden, obwohl sie nach wie vor verfügbar ist, kann das Unternehmen nicht einfach mit den Schultern zucken. Es ist nicht nur das Problem der Nutzer, sondern auch seins. Wenn signifikante Teile auch über eine Umstellungsphase hinweg in einem Layout bestimmte Funktionen nicht finden, ist „die sind halt zu doof“ die falsche Antwort. Dann erfüllt das Layout seine Funktion nicht, Punkt. Oder es fehlt ein vernünftiges Tutorial, um die Logik dahinter den Anwendern zu vermitteln.

Das ist der diffizile Spagat: Kritik abfedern und herausfiltern, was dem üblichen kurzweiligen Entrüstungssturm geschuldet ist und was ernsthaftes Feedback darstellt. Am Beispiel Facebook: Von den Protestgruppen zur Timeline ist nichts mehr zu hören, da beschwert sich nicht mal mehr ein gallisches Dorf. Und das liegt nicht daran, dass es einen Massenexodus gegeben hätte – sie haben sich nur beruhigt und damit abgefunden. Andere Dienste – wie den frühen Facebook-Ballon Beacon, der die Freunde über das eigene Shopping-Verhalten informiert hätte – hat der Proteststurm hinweg gefegt.

Für Unternehmen heißt das, sie müssen einerseits ein vernünftiges Change Management betreiben und den Nutzern die Veränderungen erklären und nahe bringen – das hat Facebook bei noch nichts so explizit betrieben wie bei der Chronik – und andererseits aus der Kritik die relevanten Punkte herausfiltern. Eine Abstimmung mit den Füßen respektive der Maus, sprich: Nutzerschwund, will ja keiner. Und normalerweise steckt ja ein Konzept, eine Logik hinter den Veränderungen, kein bloßer Impuls. Bei Google etwa hat schon mal ein Chefdesigner gekündigt, weil er keine Lust mehr hatte, sich vor einem Ingenieurstribunal für jede Verschiebung von Schaltflächen um ein paar Pixel rechtfertigen zu müssen. Aber nicht jedes Konzept geht auf. 

Mehr mit den Nutzern reden, sie besser in die Neuerungen einführen und ihnen diese nahebringen, kann viel Reaktanz nehmen. Das hat nur noch nicht jeder begriffen. Und manchmal haben die Nutzer mit ihrer Kritik halt auch recht.

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