Dienstag, 10. April 2012

Antisocial Media: Dizzlike, EnemyGraph und die Freundesmüdigkeit

Nach der Informationsflut folgt die Freundeflut: die Beschwerden häufen sich, dass Menschen in lauter Freunden und Freundesanfragen in Social Media ertrinken, der Flut zwischenmenschlichen Geplauders nicht mehr Herr werden. Freundesanfragen auf Facebook hier, Follower und DMs auf Twitter dort, Google+, Path, Instagram, Pinterest und was sonst noch alles: eine stetig wachsende Zahl von Plattformen, um sich mit immer mehr (oder immer den gleichen) Menschen zu verknüpfen, zu interagieren, soziales Verhalten ins Netz zu übertragen.

Schon schlimm, das. (Für Neuleser: Deutlicher schwenke ich das "Vorsicht, Ironie"-Schild nicht.)

Und so zeigen sich Gegenbewegungen, Reaktanzen derjenigen, denen das ewige Inter-Nettsein auf den Keks geht: Social Müdia nennt etwa Olaf Kolbrück die Ermattung durch das Soziale Netz. Dann liegen Accounts brach, Leute löschen mühsam ihre Freundeslisten auf ein geringeres Maß zusammen, heben den Daumen nur für Mitfahrgelegenheiten aus dieser ganzen anstrengend sozialen Zwonulligkeit heraus. Ein Netzwerk wie Path, das die eigenen Verdrahtungen auf 150 begrenzt, wird als Offenbarung gefeiert. (Mit Bekanntwerden des Bonusfeatures von Path, dass es hilfsbereit eine externe Kopie des Adressbuchs auf seinen Servern ablegt, kühlte die Begeisterung allerdings ab.) Oder Menschen wenden sich, als Teil dieser Fluchtbewegung, Antisocial Media zu.


Denn da liegt doch die eigentliche Krux: Dass jetzt auch noch in dieses Internet soziales Verhalten einzieht. Vorbei die Zeit, in derganz nach alter Lesart „reale“ und „virtuelle“ Welt nichts miteinander zu schaffen hatten und Nutzer nach anstrengenden Tagen voller Lächeln und Nicken wenigstens im Netz und dem Schutz der Anonymität der eigenen Arschlöchigkeit freien Lauf lassen konnten. Projekte wie die App EnemyGraph oder das in Planung befindliche Spiel Dizzlike geben verloren geglaubte Freiheit zurück, sich daneben benehmen zu können und nicht jedermanns Freund zu sein.

Die Facebook-App EnemyGraph schafft statt dem Freundes- ein Feindesnetz: Indem der Nutzer angibt, wen und was er alles auf den Tod nicht ausstehen kann, charakterisiert er sich selbst. Und die Site gibt mit Listen der Top Enemies und Trending Enemies eine Skizze dessen wieder, was im Social Web Ausschlag erzeugt. Am meistgehassten sind im Übrigen Sangesknabe Justin Bieber, Microsofts Internet Explorer und der US-Politiker Rick Santorum. (Ja, das ist überraschungsfrei.)

Das Startup-Game Dizzlike macht aus dem Freunde vergraulen sogar ein Spiel: Das Spieluniversum stellt eine Art Anti-Facebook dar, in dem Nutzer über verschiedenste Aktionen versuchen müssen, Freunde zu verlieren. Echte Facebook-Freunde lassen sich dabei als Zwischengegner importieren, und die höchste Punktzahl erwirtschaftet der, der möglichst viele Freunde los wird.


Während das launige Konzept (das übrigens noch Investoren sucht) eher als Ventil für die Social-Media-Überforderung dient, hat das gleichfalls an einer Uni geborene Projekt EnemyGraph einen ernsteren Hintergrund: Das Projekt will nämlich Facebooks soziale Philosophie aufs Korn nehmen, die gemeinsame Affinitäten ins Zentrum stellt. Wie Projektleiter Dean Terry es ausdrückt: 
Relationships always include differences, and often these differences are a critical part of the fabric of a friendship. In the country club atmosphere of Facebook and its platform such differences are ignored. It’s not part of their “social philosophy”.
Nicht nur können auch Animositäten statt Affinitäten Menschen verbinden, Unterschiede sind auch Teil jedes Beziehungsgeflechts. Insofern zeigt das kleine Projekt etwas sehr richtiges auf: Bei vielen ist schlicht der Umgang mit ihren Social-Media-Freunden und -„Freunden“ und das Verständnis, wo hier der Unterschied liegt, das Problem. Und das, was nach Reaktanz aussieht, ist eigentlich eine Normalisierung.

Denn was sind denn die klassischen Klagen in Bezug auf Social-Media-Überforderung: Dass im Durchrauschen der Statusupdates die eigentlich interessanten Posts untergehen, verdrängt vom Bilderordner des Schwippschwagers, dessen Urlaubserinnerungen einen schon als Diashow nicht interessiert haben. Oder Apps atemlos seitenweise herausposaunen,dass der Ex-Kollege gerade den 482. Kohlkopf geerntet hat oder die Nachbarin unbedingt noch drei Gummidichtungen und einen blauen Kristall braucht, um irgendwas fertig zu bauen, was ohnehin keine Sau interessiert. Garniert mit dem ewigen inneren Konflikt, ob man denn Chefs, Kollegen, die Sandkastenliebe und den eigenen Zeitungszusteller nicht auch noch adden solle.

Dabei gibt es weder einen Add- noch einen Lesezwang. Es gibt keinen Preis dafür, die meisten Freunde zu haben (auch wenn nicht jeder das bereits verstanden hat). Gegen unerwünschte Einladungen und Benachrichtigungen helfen Filter und Blockierungen, der Rest fällt, ja, unter natürliches Sozialverhalten. Das, was uns Bekannte, Kollegen und Freunde erzählen, interessiert uns nun mal nicht immer oder deckt sich mit unserer Meinung. Das ist normal und darf sich ruhig in Teilen auch online spiegeln. Das Ausmaß von Verbundenheit mit Freunden und Bekannten schwankt auch in der Realität stark, genau wie das gegenseitige Vertrauen oder die Themen, über die man spricht. Legitim, wenn sich das online ebenfalls abbildet. Dazu kommen diejenigen, mit denen man nicht aufgrund persönlicher Bekanntheit, sondern rein der Inhalte wegen verdrahtet ist, was Unterschiede in der Interaktion bedingt. (Die aber nicht zwingend sind, weil so interessante und fruchtbare Bekanntschaften entstehen können.) Kurz: Auch Offline lassen sich Bekannt- und Freundschaften in verschiedene Klassen und Kreise einteilen, durch die Eigenheiten von Social Media wird dieses Konzept nur erweitert, nicht aber erfunden.

Eine Überprüfung der eigenen Aktivitäten wie auch eine bewusste Gestaltung der eigenen Freundeslisten stellen zudem keinen fluchtartigen Gegentrend dar, sondern schlicht eine Normalisierung. Ohne Hilfsmittel, Listen oder Filter (ob mentaler oder technologischer Natur) dürfte es schlicht anstrengend werden, jedem Gespräch in einem Opernsaal mit 5000 Leuten gleichzeitig zuzuhören. Das muss aber auch niemand, der es nicht will. Niemand wird den Nutzer am nächsten Tag abfragen, um festzustellen, ob er auch wirklich jedes einzelne Statusupdate gelesen und auswendig gelernt hat.

Wer aber darauf besteht, kann etwa bei Google+ ganz leicht einen eigenen Höllenkreis mit besonders nervigen Bekanntschaften anlegen. Nur bitte nicht teilen.

2 Kommentare:

  1. BOAH! ENDLICH! Dachte schon, ich wäre der einzige. Hab' gehört, zu Dizzlike (dem Spiel) soll sogar eine echt derbe Hintergrund-Story erscheinen. Der Author soll ziemlich krass drauf sein! Sinnma' ma' gespannt, wa'? =-D

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    1. Zwei Dinge noch. Der Beitrag ist sehr lesenswert und mir ist bewußt geworden, dass ich "Autor" ohne "h" hätte schreiben müssen.

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