Montag, 7. November 2011

Livestand & Co: Inhaltekiosk statt Zeitschriftenregal

Eins zeigt Yahoos Präsentation ihres Digital-Magazins Livestand schon mal deutlich: Das mit dem Medienhaus meinen sie ernst. Und: Das Segment um Flipboard und Co. wird spannender. Was ich gut finde, denn das Konzept dahinter hat durchaus Potenzial.

Livestand reiht sich ein in die Galerie von Aggregator-Apps, die aus Inhalten verschiedener Quellen auf die jeweiligen Nutzer zuschneidbare digitale Magazine / Zeitungen bauen.
Neben Flipboard besetzen dieses Segment Angebote wie Zite, Pulse oder AOL Editions – die letzten beiden gibt’s für deutsche User nicht. Livestand auch noch nicht, aber das kommt 2012.


(Bild: Business Wire)

Nach den ersten Eindrücken zu schließen (testen ließ es sich ja noch nicht), macht die Jodel-Truppe dabei einiges richtig. Etwa, den Hebel der eigenen Inhalte-Partner einsetzen – ABC und Forbes klingt schon mal nicht verkehrt – und vor allem, ein potenzielles Geschäftsmodell unterziehen.

Mit den Rich-Media-Werbeformaten und den "interaktiven Ads", die auf User-Engagement setzen, gibt es nämlich gleich von vornherein Möglichkeiten, mit dem Ding auch Geld zu verdienen – etwas, an das sich beispielsweise Flipboard gerade erst herantastet. Dem Nutzer ist das natürlich schnurz, aber für die Inhalteanbieter, die Publisher, ist es wichtig - und damit für die Sicherung des inhaltlichen Angebots. Vermarktungserfahrung hat Yahoo ja. Und über verschiedene Inhaltekategorien und Titel hinweg lassen sich natürlich hübsche Targeting-Profile aufbauen.

Den Bildern nach stimmt auch die Optik – Livestand kommt magazinig daher, ansprechend, nicht als Bleiwüste.

Das Konzept der individuellen Magazine an sich hat durchaus Charme, insbesondere für News-Junkies und andere Infovoren. (Jeder aus meinem Branchenfeld kann hier mal kurz winken. Ja, das sind wir.)

Anstelle des RSS-Readers oder auch seiner etwas dekorativeren Vettern wie Google Reader (alte Edition) oder Feedly kommt das ganze entspannt-magazinig daher – die iPad-Zeitschrift für den Couchtisch. Und die Couch ist ja eh ein wichtiges Nutzungsszenario für Tablets. Bequem durch eine Auswahl von Info-Quellen blättern, die sich noch dazu auf die eigenen Interessen anpassen lässt und durch zunehmende Verwendung besser ausgesteuert wird, das hat schon seinen Witz. Und ist bequemer, als sich am Rechner durch die eigenen Bookmarks und Favoriten zu fräsen. Als Nutzer ist ein iPad-Aggregatormagazin angenehm unkompliziert. Mit einer guten Aussteuerung dahinter sollte sich zudem der Anteil der Inhalte, die man auch wirklich lesen will, erhöhen. Aus dem Profil und dem Leseverhalten lassen sich ja schließlich Rückschlüsse ziehen. Innerhalb eines thematischen Segments fällt dann auch der Weg zu neuen Quellen deutlich kürzer aus. Er führt den Leser über Themen und Inhalte, nicht über Marken, mit denen er sich noch nicht beschäftigt hat.

Ein paar Haken hat es natürlich auch:
Zum einen muss eine entsprechende Auswahl an Publisher-Inhalten verfügbar sein. Das hängt wiederum schwer damit zusammen, was man diesen anbieten kann. Flipboard, bei dem (bis auf Querschnitts-Topics) jede Marke ihren eigenen Bereich mit ihren eigenen Inhalten enthält, in denen sie auch Unterbrecher-Anzeigen platzieren können, geht einen markenfokussierten Weg - auch wenn die Auswahl an Inhalten und Partnern spannender sein könnte. Zite hingegen, das in eigenen einstellbaren Themenrubriken alle auf einmal bündelt, hat nicht zu knapp Post von Medienhausanwälten erhalten. Marken wollen sich ja selbst verlängern und nicht im Wust untergehen. (Für Leser ist die so entstehende inhaltegetriebene Auswahl aber durchaus reizvoll.) Da Yahoo Publishern ihre eigenen Bereiche lässt, sollte das bei Livestand unproblematisch sein.

Zum anderen:
Das Thema "Individuell zugeschnittene Inhalte" ist bei weitem nicht trivial. Wie fein und genau hier Algorithmus (und menschlicher Kurator) für eine passende Auswahl sorgen, ist die Krux. Schließlich muss der Fokus so eingestellt werden, dass die Inhalte für den Leser nicht zu breit werden und er trotzdem noch die neuen, unerwarteten Dinge erfährt, die er nicht im Blick hat.

Medienhäuser sehen die Aggregatoren-Apps mit gemischten Gefühlen, oft genug überwiegt die Skepsis. Verständlich, schließlich herrscht die Furcht, dass dann ein anderer mit meinen Inhalten Geld verdient. Über vernünftige Partnerschaftsmodelle sollte sich das aber lösen lassen. Das gilt auch für das Thema Markenpräsentation. Der Kiosk-Besitzer oder Grossist darf ja auch mitverdienen (auch wenn gewisse Verlage hier Einwände erheben).

In der allgemeinen Zielgruppe fahren Publisher mit eigener Plattform (als App oder Mobile Site) vielleicht besser, da eine aktuelle PEW-Studie ja zeigt, dass etablierte Marken auch auf dem Tablet Leser zu sich ziehen. Das Segment der Infovoren ist bei Tablets aber nicht nur stark vertreten, sondern auch als Zielgruppe interessant. Und die Präsenz im Aggregator kann insbesondere Marken aus der zweiten Reihe neue Leser zuspielen, die erst beim Blättern im Inhaltekiosk auf sie aufmerksam werden.

Der eine Weg schließt den anderen nicht aus.
Es gibt ja auch genug Titel, die sich nicht nur über Abo, sondern auch über Kiosk & Co. vertreiben lassen.

Mit immer mehr Playern in diesem Markt - der gewöhnlich gut informierten Kara Swisher zufolge steht diese Woche der Start von Googles Aggregatoren-App (Codename Propeller) an - sollten sich Medienhäuser mit dem Modell beschäftigen. Sinnvoller als der nächste PDF-Kiosk ist es allemal.

Mancher Medienmensch rümpft auch die Nase, weil sich dann ein Algorithmus einbildet, die journalistische Funktion der Selektion zu übernehmen. Was hierzu gesagt sein soll: Der Algorithmus ersetzt uns nicht. Er ändert an der Rolle des Journos nichts. Wir sind immer noch Gatekeeper.

Nur das wir schon lange nicht mehr der Gatekeeper sind, der hübsch aufpasst, dass keines der Schafe über den Zaun springt. Das wäre eh ein seltsames Verständnis. Wir stehen vielmehr am Schleusentor und fischen das aus dem Meer an Informationen heraus, das wir für unsere Leser für relevant halten. Plural. Wir schreiben für Zielgruppen, nicht für Einzelne (so schlimm geht’s Print dann doch noch nicht.) Das heißt, wir schreiben für die Interessen eines Amalgams. Es ist völlig normal, dass sich der einzelne Leser danach das herauspickt, was ihn interessiert. Oder wann habt ihr das letzte Mal eine Zeitung komplett von vorne bis hinten gelesen? Journalist und Algorithmus ersetzen sich nicht, sie ergänzen sich.

Es ist schon jetzt so, dass sich jeder aus seinen Medien in Print, Online und anderswo seinen Mix zusammenstellt – unterstützt vom Social Graph und anderen Faktoren. Eine Aggregatoren-App macht das einfacher. Wichtig ist, dass sie die Tore nicht zu weit zu macht. Denn das Problem jedes nachfragebasierten Modells ist: Ich kann nur das nachfragen, was ich kenne.

Wichtiger Teil des Journalismus ist es aber auch, auf die Sachen zu verweisen, die sonst eben untergehen.

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