Mittwoch, 17. Oktober 2012

Wir Selbstdarsteller: Social Media und soziale Interaktion

Das Netz und Social Media haben in der allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung (auch der deutschen) schon einen deutlichen Weg hinter sich. Es ist gar nicht so lange her, da wurde noch darüber diskutiert, ob es denn normal oder Zeichen für psychische Abnormität sei, alles im Netz zu teilen, auf Facebook & Co. präsent zu sein. Inzwischen gibt es erste Personaler und Psychiater, die Leute für geisteskrank halten, wenn sie kein Facebook-Profil haben.

Das zeigt uns nicht nur, dass "Normalität" kein Fix-, sondern ein Fließzustand ist. Es verändert auch die Fragen, die wir stellen. Es geht nicht mehr darum, ob Web und Social Media unseren Alltag und unsere soziale Interaktion verändern. Sondern wie.

Bild: Jerzy Sawluk  / pixelio.de

Eine Veränderung, an die man nicht zwingend gleich denken würde, zeigte letztens die New York Times auf. Social Media legt Bars trocken. Zumindest die im Artikel betrachteten College-Bars. Denn das Ausgeh- und Sozialverhalten der Studenten verändert sich. Bars – und andere Treffpunkte – büßen einen Teil ihrer Marktplatzfunktion ein. Um sich auszutauschen, Pläne für den Abend zu schmieden oder mit anderen zu reden, gibt es andere Wege als das physische Treffen in der Bar.

 

 

Picture or it didn't happen

Stattdessen verabreden sie sich über Facebook & Co., glühen bei privaten Parties vor und tauchen als Schwarm da auf, wo einzelne Vorposten die günstigsten Bedingungen (was Getränkepreise und andere Anwesende angeht) melden. Denn auch vor Ort wird ordentlich Zeit mit der Verbindung über mobile Nabelschnur verbracht. 

(Wer hätte das gedacht: Der Gaststätten-Tod - oder zumindest der Umsatzverringerer - ist nicht das Rauchverbot, es ist Facebook.) 

Mit ein paar seltsamen Konsequenzen, nach den Zitaten im Artikel gehend: 

"You could have this really amazing night, but if you didn’t get a picture, it’s like it didn’t happen,” said Ms. Parr, 22, a senior at Gettysburg, whose friends often order designer outfits from the Rent the Runway Web site because incessant documenting makes wearing anything more than twice taboo. "It’s crazy how much pictures consume our lives. Everyone knows how to pose and how to hold your arm and which way is most flattering, and everyone wants the picture taken with their phone."
But no matter where the drinking is done, the morning after is often the same. Tracy O’Hara, 21, a Cornell senior, said: "I can’t imagine what it was like before Facebook when you could just spend the morning after a big night out recovering. Now you have to spend, like, an hour untagging photos. And then you read your texts and you’re like, 'Oh, so that’s what I did last night.'"

Picture or it didn’t happen. Ich glaub’ nur das, was sauber über Facebook, Instagram, Twitter & Co. dokumentiert ist. Man mag das für die Web 2.0-Variante von "Ich glaube nur das, was ich sehe" halten. Das Interessante daran ist aber: Die Selbstdarstellung im Netz, sie wird zur Selbstdokumentation. Eine Folge der zahlreichen Daten, die wir teils aus eigenem Antrieb, teils unbewusst oder ohne großen Einfluss darauf hinterlassen, ist diese: Unsere Leben werden besser dokumentiert als jemals zuvor. Der feuchte Traum jedes alten Stasi-Manns.

(Auch wenn die interessante Frage bleibt, wie viel davon mittel- bis langfristig überhaupt erhalten bleibt. Wie viel der alten Speicherformate und Speichermedien von vor ein paar Jahren ist denn heute noch nutzbar? Jetzt extrapoliert mal.) 

Die Frage ist: Verändert die (Selbst-)Beobachtung das Subjekt? Wenn ja, wie? Natürlich gehört das Spielen von Rollen im Social Web dazu (wie im physischen Leben auch). Wer das anzweifelt: Guckt euch mal ein repräsentatives Sample von Profilbildern an. Oder das Phänomen der Profilbilder selbst – etwas, das für einige eine derart ikonische Rolle angenommen hat, dass selbst der Mars Rover Curiosity dank drehbarer Kamera ein Profilbild von sich aufgenommen hat (für den eigenen Twitter-Account). 


Ich poste Bilder, also bin ich?

Nun mögen College-Studenten, insbesondere die in Bars von Journalisten vorfindbaren, nicht wirklich ein repräsentatives Sample für ihre Altersgruppe oder gar gesellschaftliche Schichten sein. Aber der Trend zur Selbstdokumentation, er zeigt sich auch anderweitig. Denkt nur an die Heerscharen von Instagram-Nutzern, die offenbar im vorigen Leben Food-Fotograf waren. Die Dokumentation des eigenen Mittag- oder Abendessens, sie ist ein wesentlicher Bestandteil im Visual Web. So ausgeprägt, das erste Lokale dazu Schilder aufhängen und Verbote aussprechen. 

Man kann es nun als Zeichen von mehr Transparenz, mehr Offenheit sehen, dass Menschen ihren Alltag mit anderen teilen. Was auch grundsätzlich zu begrüßen ist. Wenn aber nun - wie bei den College-Gängern skizziert - die eigenen Handlungen davon beeinflusst werden, wie das Ganze im Netz aussehen wird, nimmt das Selbstdarsteller-Tum überhand. Wenn die Dokumentation der Ereignisse an Bedeutung mit dem Ereignis selbst gleichzieht oder es gar überholt, dann mutiert der Alltag zu einem nicht enden wollenden Klischee-Urlaub, der nur durch die Kameralinse betrachtet wird. Schlimmstenfalls, statt ihn zu erleben. 

Das hat zwei potenzielle Konsequenzen: Die erste besteht darin, dass Menschen am Ende die selbst erlebte Wirklichkeit als medial vermittelte Realität wahrnehmen. Nur durch die Kameralinse, Fotos, Statusupdates. "Ah, das hab ich gestern also gemacht." Die andere zielt tiefer: Wenn Menschen die Selbstdarstellung, Selbstdokumentation und die Frage, wie das wohl im Netz aussehen wird, von vornherein im Kopf haben, dann kann das Auswirkungen darauf haben, was sie tun. Wie sie das Drehbuch ihrer eigenen Scripted-Reality-Soap schreiben, sozusagen. Sich selbst zensieren oder in bestimmte Richtungen lenken. 

Die totale Überwachung unseres Selbst könnte so signifikante Auswirkungen zeigen. Durch die – auch internalisierte – ständige Beobachtung, den sozialmedial übertragenen Gruppendruck. Die Beobachtung verändert und formt das Subjekt. Das ist freilich abstrakt und überspitzt formuliert. Es trifft schließlich nicht zu, dass die College-Studenten repräsentativ für die komplette Internet-Nutzerschaft sind. Nicht jeder, der Teile seines Lebens im Netz verbringt und dort zeigt, mutiert zum kompletten Selbstdarsteller. Es geht nicht darum, dass jeder, der ein Foto hochlädt oder Erlebnisse teilt, gleich sein Leben nach Photo-Ops ausrichtet. Das zu behaupten wäre völliger Unfug. So wie es Extrem-Exhibitionisten im Netz gibt, gibt es Menschen, die noch immer nichts oder sehr wenig mit dem Social Web zu tun haben wollen. Und diejenigen, die es als normalen Teil ihres Lebens sehen und damit normal umgehen.

Posieren wie auch Auswirkungen von Gruppendruck sind zudem ja auch kein dem Internet oder Social Media geschuldetes Phänomen. Es geht, wie meist, nicht darum, was das Internet oder Social Media mit uns machen. Sondern wie wir damit umgehen und wie das auf uns zurückwirkt. Das Posieren der Studis für die Partymeile etwa gab es auch vor Facebook – genau wie diejenigen, denen das schnurz ist. 

Worum es mir geht, ist die Frage, ob und inwieweit die Selbstbeobachtung Auswirkungen zeigt. Die skizzierten Studis mögen Extremfälle sein. Das heißt aber nicht, dass sich daraus nichts ableiten lässt.


Me, Myself and the dissolving Gap

Das Einnehmen von Rollen stellt ja nicht nur Rumgepose dar – im Sinne der soziologischen Rollentheorie weist jeder von uns ein Set verschiedener funktionaler, operationeller oder kontextbezogener Rollen auf, in denen er agiert. Und gewisse Maskierungen sind völlig normal – der Verkäufer wird dem Kunden gegenüber in der professionellen Rolle anders auftreten als im privaten Umfeld.

Genauso klar ist, dass Menschen in bestimmten Situationen oder bestimmten Personen gegenüber durchaus mal als Konstrukt ihrer Selbst auftreten – als idealisierte Version, als bestimmte Aspekte betonende oder in bestimmten Aspekten an eigenen oder fremden Wunschvorstellungen orientierte Version. Gerade rund um soziale Interaktion im Internet gab es entsprechende Debatten ohnehin von Anfang an: Darüber, ob Menschen in virtuelle Welten flüchten, Fantasien ausleben, als idealisierte Version ihrer Selbst oder komplette Fiktion auftreten würden. Und darüber, ob das schädlich, therapeutisch, entwicklungspsychologisch relevant oder sonst was sei.

Durch die Verwebung von Netz und physischer Welt – gerade durch mobile Zugänge – hat sich inzwischen allerdings die Durchdringung deutlich erhöht. Das Auftreten in und der Umgang mit Netzwerken ist viel alltäglicher und selbstverständlicher geworden. Die Debatten darüber, ob Menschen ein komplett unterschiedliches "reales" und "virtuelles" Ich pflegen, wird dadurch hinfällig, dass sich die Trennwand zwischen physischer und digitaler Welt auflöst. Die Frage ist, welche Auswirkungen das hat. Ob das "virtuelle" Ich sich dem "realen" annähert oder anders herum. Ob sie sich aufeinander zubewegen. Oder ob es überhaupt getrennte Fassungen gibt und diese Chimäre nicht schon längst ausgestorben ist. Die meisten, die ich kenne, klingen auf Facebook oder Twitter so, wie sie auch in der physischen Welt klingen.
 
Es wäre unsinnig, kategorisch zu behaupten, dass Social Media keinen Einfluss auf uns hat. Unsinnig, weil sich das bei sozialer Interaktion, gleich über welchen Weg,  nicht einfach ausschließen lässt. Es geht nicht darum, vor irgendwelchen Gefahren zu warnen. ("Denkt denn niemand an die Kinder?" ist ein selten dämlicher und meist polemischer Klageruf.) Nur darum, ob und wie sich Teilhabenlassen auf uns auswirkt. Das kann schließlich auch positiv ausfallen, dürfte es sogar zumeist.

Und dann geht es darum, wann es zur obsessiven Selbstdarstellung und Selbstdokumentation wird und wie vernünftiger, aufgeklärter Umgang mit Medien und Kanälen gefördert werden kann, um das abzufedern. Wohlgemerkt nicht darum, dass das ja eine Auswirkung des bösen Netzes sei. Soziale Kontrolle und soziale Anpassung sind Prozesse in Gruppen. Es gibt keinen Grund dafür, dass sie in computergestützter Interaktion nicht auftreten sollten. Es geht nur darum, schädliche Überhitzungen zu verhindern.

Ja, das ist wieder das unbeliebte Wort der Medienerziehung. Aber die ist nun mal nötig, und die brauchen nicht nur Teenies und besoffene Studenten.

Verändert uns (Selbst-)Beobachtung? Halten wir ein Auge drauf.



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