Montag, 4. November 2013

Perlen und Glasperlen, Fische und Angler - Vom Wert der Multimediareportagen

Manchmal ist es schon lustig. Da spricht Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner Anfang letzter Woche noch darüber, dass sich die multimedialen, interaktiven und animierten Erzählelemente, wie sie Multimediareportagen wie Snowfall oder Stalinallee einsetzen, auch hervorragend für Features eigneten, um komplexe Zusammenhänge zu erklären, und dass das ein noch unterschätzter Hebel im Onlinejournalismus sei. Und am Freitag legt der Guardian quasi wie bestellt NSA Files: Decoded vor. Ein Multimedia-Feature, das für Nutzer die komplexe Thematik mit Text, Videos, Grafiken und Animationen aufbereitet, versucht, es für jeden greif- und begreifbar zu machen.

Der Guardian illustriert, was Multimediafeatures leisten - und welche Probleme auftreten können.


Also folgt nach Text 1, 2 und 3 über Multimediareportagen im Onlinejournalismus jetzt halt noch der vierte binnen einer Woche.

Aber fangen wir etwas weiter vorne an, die Zeilen oben sind eher ein innerer Monolog als ein Texteinstieg.

Beim Thema Zukunft des Journalismus und der Frage, was der Onlinejournalismus an neuen Möglichkeiten bietet (die Menschen dann vielleicht auch Geld wert sind), stechen eine Reihe von Leuchtturmprojekten aus dem Nebel heraus, in dem wir unseren Pfad suchen. Multimedia-Reportagen, die aufwendig Text, Video, animierte Elemente und Visualisierungen verbinden, um Geschichten zu erzählen. Sie stechen heraus, weil sie sichtbare, griffige Beispiele darstellen, nicht zwangsläufig, weil sie wegweisend sind. Einiges davon führt aber schon auf richtige Pfade. Meist dient als Referenz und Kürzel für diese Multimediareportagen das Projekt Snowfall der New York Times.

Es gehört ja zu den Eigenarten von Debatten über die Zukunft des Journalismus, dass die NYT als leuchtendes Beispiel und Vorreiter herhalten muss, eine Art Steve Jobs der Medienwelt. In vielen Fällen auch zurecht, aber sie sind nicht die einzigen, die sich an derartigen Dingen versuchen. Und gerade aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung nicht das beste Beispiel, weil sich hier gesammelte Erfahrungen nur begrenzt auf andere Titel übertragen lassen.


Andere Projekte dieser Art gab es etwa beim Guardian (Firestorm), bei der NZZ (Fukushima), bei der Rhein-Zeitung (Arabellion) oder bei Zeit Online - Tour de France und Das neue Leben der Stalinallee über die Karlmarxallee. Und die NYT hat mit A Game of Shark and Minnow nachgelegt.

Abhängig vom Grad der Nähe zu dem Themenfeld (Zukunft des) Onlinejournalismus habt ihr davon vermutlich mehr oder weniger viel zur Kenntnis genommen. Snowfall dürfte noch den meisten etwas sagen. Bei Arabellion, Tour de France und Stalinallee wird es vermutlich weitaus dünner.


Von Fischen und Anglern

 

Das verdeutlicht zwei Punkte.

Erstens die Sonderstellung der NYT, deren Grundstrahlkraft auch solche Projekte deutlich mehr illuminiert als es bei anderen Medienmarken der Fall ist. Was wiederum die Gefahr verdeutlicht, von Erfahrungen dort auf andere Marken zu schließen.

Zum anderen ein gewisses Grundproblem: Viele in der Medien- und Kommunikationsbranche finden solche Projekte, solche Beispiele großartig. Oder teilen sie zumindest fleißig selbst in ihren Social Streams, auch wenn sie selbst sich die Stücke gar nicht näher ansehen. Aber die Nutzer als solche? Sehen so Artikel aus, die Menschen wollen, die Menschen packen?

Vom Handwerklichen, vom Storytelling und vom ganzen Konzept ist etwa A Game of Shark and Minnows wirklich beeindruckend. Nur muss, um das alte Bild zu bemühen, die Geschichte vom Hai und den Fischen halt den Fischen schmecken, nicht der Anglerfraktion.

China als Hai im südchinesischen Meer - funktioniert das für Leser?


Insofern ist es schön und durchaus verdient, dass Arabellion wie Tour de France in der Kategorie beste Webreportage beim Reporterpreis nominiert sind. Das ist aber nur die halbe Miete. Nein, eigentlich nicht mal das. Eher ein Drittel. Um perspektivisch trotzdem die Wohnung finanziert zu kriegen, gilt es noch zwei andere Teile zu betrachten: Wie groß ist das Leserinteresse? Und: Was können wir daraus ableiten und als Bausteine einer Gesamtstrategie verwenden?

Um bei Zeit Online zu bleiben: Die für Tour de France im Raum stehenden, knapp siebenstelligen Abrufzahlen können sich durchaus sehen lassen. Bei der Karlmarxallee äußert sich der Verlag auch  zufrieden. Nimmt man aber die Viewzahlen der integrierten Youtube-Videos, dann fallen die mit Werten im vierstelligen Bereich recht ernüchternd aus. (Was nicht heißt, dass die Artikel-Abrufzahlen nicht deutlich darüber liegen können.) Die 3,5 Millionen Views binnen einer Woche bei Snowfall sind wieder nur begrenzt hilfreich, weil es eben um das stilbildende Beispiel bei der NYT geht. Generell bräuchte es hier noch einen konkreteren Zahlenvergleich der verschiedenen Projekte - mit dem jeweils eigenen Durchschnitt und auch absolut, um dazu mehr sagen zu können. Hier ist das Bild noch recht unscharf.

Aber kommen wir zum letzten Drittel: Was haben wir davon, nicht in Form von Abrufen, sondern den deutlich wertvolleren Erfahrungen gemessen?


Helfen uns die Storytelling-Formate weiter oder erzählen wir uns da gegenseitig eine schöne, aber erfundene Geschichte?


Ein paar der Lerneffekte für Zeit Online sind drüben bei W&V Online skizziert. Kurz gesagt geht es darum, welche erzählerischen Elemente und Features sich generell auch für andere Artikel eignen - und das ist ein spannender Punkt.

Gerade die im Prolog angeschnittene Visualisierung von komplexer Information, auch das Aufgreifen von Datenjournalismus, liefert einige Bausteine, die in Print nicht machbar sind, dem Nutzer aber viel vermitteln können. Wie man Komplexes so im multimedialen Konglomerat aufbereiten kann, zeigt der Guardian mit NSA Files: Decoded in Teilen. Die Schwarzbrot-Thematik wird hier durch den Mix, durch Grafiken und interaktive Elemente, eine ganze Ecke verdaulicher.

Das NSA-Files-Stück zeigt aber zumindest meiner Meinung nach in Teilen auch das Problem mit derartigen Formaten auf. Die eingestreuten Interview-Videoclips stellen eigentlich bloß Eye Candy dar, sonderlich viel zusätzlichen Nährwert liefern sie nicht. Im Endeffekt sind es Bewegtbild-Zitate. Statt einem Statement-Block kommt eben ein Clip. Außer dass dann aber was tönt und zuckt bringt das kaum mehr als es Textzitate getan hätten. Das ist gefährlich nah an der multimedialen Glasperle.

Das Vorbild Snowfall muss auch für Verballhornungen ("Snowdenfall") und als Verb herhalten ("lasst uns das snowfallen").


Unter diesem Problem litt für mich auch Snowfall: Die Lawinenstory war die Autostudie, auf Hochglanz poliert, mit allen Design- und Gadgetideen vollgestopft. In Teilen war das zu bunt, zu glitzernd, zu überkandidelt. Jedenfalls nicht serienreif, wenn man den Aufwand dahinter betrachtet. Das ist einer der Vorteile der Zeit-Projekte - die Stalinallee-/Karlmarxallee-Reportage ist deutlich straßentauglicher.

Wie bei Autostudien auch können sich aber Teile und Ideen dieser Projekte dann später im Serienbetrieb finden. Gerade gut gemachte Grafiken können ein echter Gewinn sein. Das gleiche gilt für Bildelemente, Animationen und Videoclips. Und ich rede hier auch, aber nicht nur vom Gewinn, den Nutzer durch derartige Features besser zu halten und in den Text zu ziehen. Denn es sollte uns um echte Perlen, nicht um Glasperlen gehen.


Im Team nach echten Perlen tauchen

 

Bloße Spielereien nutzen sich schnell ab. Die "lass uns noch ein Video einbauen"-Phase bei iPad-Magazinen sollte das gut verdeutlicht haben.

Deshalb ist es gut, dass es inzwischen eine ganze Reihe derartiger Projekte gibt, die sich auch auf das Handwerkliche und die Adaptierbarkeit abklopfen lassen. A Game of Shark and Minnow wie auch die Stalinallee sind beispielsweise einerseits zurückgenommen, was sinnfreies Multimediakonfetti angeht, andererseits aber handwerklich wirklich auf den Punkt genau.

Feines Beispiel aus und für Deutschland. Die Zeit-Online-Reportage über die Karlmarxallee.


Die bloße Struktur bei beiden bringt Elemente und Wechsel in einer Frequenz, die hervorragend passt, um Nutzer bei der Stange zu halten. Weckt und bindet das Interesse immer wieder neu, verhindert das Erlahmen des Engagements und damit Absprungpunkte. Gleichzeitig handelt es sich dabei aber nur selten um Eye Candy ("schau mal, ein Flugzeug"), sondern Elemente, die meist auch erzählerisch oder inhaltlich passen und weiterbringen.

Es sollte uns eben nicht um Glasperlen gehen, sondern die echten. Entstehend in kooperativen, multimedial gedachten Prozessen. Der große Vorteil der digitalen Multimedialität liegt doch gerade darin, dass verschiedene Medien und Formen flexibel zusammenspielen können. Dass es eben gerade nicht um Text vs. Audio vs. Bild und Video geht, sondern so frei wie nie zuvor kombiniert werden kann. Weder will ich für alles Video noch halte ich das für sinnvoll. Gleichzeitig sollten Bild, Video und Infografiken aber eben auch nicht auf die Rolle als schmückendes Beiwerk reduziert werden. Das wird ihrem Potenzial nicht gerecht.

Es geht bei dem, was wir aus den Projekten an Erfahrungen und Lerneffekten ziehen können, eben gerade nicht nur um ein paar simple Templates, die sich dann als Beischmuck nutzen lassen. Ganz zentral für derartige Projekte war auch ihr redaktioneller Entstehungsprozess, in dem von vornherein zusammen konzipiert wurde. Also die Texter mit der Bildredaktion, den Videospezialisten, den Programmierern und allen anderen gemeinsam den Plan schufen und zusammenschraubten. 
Aus den Storytelling-Formaten können wir hoffentlich nicht nur Elemente, sondern auch Strukturen und Denkstrukturen übernehmen. Die Bedeutung durchdachter Gestaltung sollte so greifbarer werden. Und auch als Form funktioniert das Erzählerische gut - wir Menschen sind nunmal Geschichtenerzähler - und liefert nicht nur Leuchttürme, die natürlich auf das Image einzahlen. Das Erzählen von Geschichten erfolgt auch zwingenderweise mit der eigenen Stimme. Diese erklingen lassen ist für Medien meiner Überzeugung nach ganz entscheidend. Nicht nur Online, versteht sich.

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